
Die Nachhaltigkeits-Challenge für diesen Monat:
Plastikfrei einkaufen!
Heute bin ich dran. Joghurt und abgepackten Aufschnitt lasse ich links liegen, das Süßwarenregal würdige ich keines Blickes - was mir allerdings einiges an Willensstärke abverlangt.
Doch dann komme ich ins Stocken: Statt nach der Zahnpasta in einer Tube aus Plastik greife ich nach der aus Aluminium. Aber ist das denn so viel besser? Es heißt doch, dass die Herstellung von Aluminium so energieintensiv und damit umweltschädlich ist! Andererseits weiß ich, dass sich Aluminium im Gegensatz zu Plastik fast ohne Qualitätsverlust und nahezu unbegrenzt recyceln lässt.
Ähnlich schwer fällt mir die Entscheidung in der Obst- und Gemüseabteilung: Was, wenn ausgerechnet die regionalen Produkte in Plastik verpackt sind, während die unverpackten Tomaten in diesem Fall aus Spanien kommen?
Irgendwie geht es uns doch allen so: Der Klimawandel lässt sich nicht mehr leugnen und hat uns wachgerüttelt. Wir wollen aktiv ein nachhaltigeres Leben angehen - und kommen dabei schnell an unsere Grenzen.
Zu komplex und diffus erscheint der Begriff der Nachhaltigkeit. Achte ich bei einem Produkt auf das BIO Gütesiegel, heißt das noch lange nicht, dass es auch CO2 neutral produziert wurde. Kaufe ich nur Fairtrade, bleibt unter Umständen immer noch ein langer Transportweg. Steige ich auf ein Elektrofahrzeug um, muss ich sehr genau aufpassen, ab wann sich der weniger ökologische Produktionsweg im Vergleich zu einem Verbrennungsmotor nivelliert. Außerdem haben wir ja jetzt schon die Karre - sollte man sie dann nicht lieber fahren, bis sie alt und klapprig auseinander fällt...?
Es mangelt nicht an gutem Willen - es fehlt uns wohlmeinenden Freizeitökos einfach an grundlegendem Wissen auf einem Gebiet, das zugegebenermaßen so komplex ist, dass sich selbst Wissenschaftler meist auf einen einzelnen Aspekt der Nachhaltigkeit konzentrieren.
Die Grüne Null erreichen - geht das?
Umso größer meine Freude, als mir ein Buch in die Hände fällt, das genau diese Thematik aufgreift und in seiner Alltagsnähe sicher nicht nur mir aus der Seele spricht.
Dirk Gratzels Buch Projekt Green Zero befasst sich mit einem ausgesprochen ehrgeizigen Wunsch:
Bis zu seinem Tod möchte Herr Gratzel es schaffen, die Ökobilanz seines Lebens komplett auszugleichen!
Und die sieht ziemlich düster aus. Als beruflicher Vielflieger und passionierter Autofahrer hat der erfolgreiche Unternehmer schon einiges an Klimaschulden angehäuft.
Mit Blick auf die Zukunft seiner fünf Kinder habe sich ganz allmählich der Wunsch entwickelt, klimafreundlicher (am liebsten klimaneutral) zu leben, so Gratzel. Eine Geschichte, die an sich noch nichts besonderes ist. - Besonders ist allerdings die Konsequenz und Akribie, mit der Dirk Gratzel sein Ziel verfolgt!
In Projekt Green Zero schildert er augenzwinkernd und selbstironisch die verschiedenen Phasen seines Vorhabens von der ersten Idee bis zum Status Quo.
Bemerkenswert ist sein Ansatz, sich nicht damit zu begnügen, fortan einfach eine ökologischere Lebensweise zu pflegen. Schonungslos ehrlich will er zunächst einmal (Öko-)Bilanz seines bisherigen Lebens ziehen, um seinen ökologischen Fußabdruck möglichst genau zu zu bestimmen. Gar nicht so einfach, denn in diesem spielen neben unserem CO2 Austoß weitere Faktoren wie Versauerung oder Eutrophierung eine Rolle.
Unterstützung bekommt Gratzel dabei von der TU Berlin, mit der er gemeinsam sein gesamtes Leben in vier Schritten klimaneutral bekommen möchte:
1. Schätzung des ökologischen Fußabdrucks in der Vergangenheit
2. Bestandsaufnahme des aktuellen Lebensstils
3. Umstellung gewohnter Verhaltensweisen auf eine ökologischere Lebensführung
4. Ausgleich der verursachten und der voraussichtlich noch zu verursachenden Umweltschäden
Soweit das Konzept. Doch welcher Aufwand mit seinem Unterfangen verbunden sein wird, dämmert Dirk Gratzel erst im Laufe des Projekts.
Die Fragen zu seiner Kindheit und Jugend nach Wohnraum, Essgewohnheiten und ähnlichem sind noch verhältnismäßig einfach zu beantworten. Als wahre Mammutaufgabe entpuppt sich dagegen die Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes.
Vom Wattestäbchen bis zum Auto gilt es nun Gratzels Besitz zu erfassen (und nach Möglichkeit Materialzusammensetzung und Herkunftsland jeden noch so kleinen Gegenstandes zu bestimmen).
Das überraschende Ergebnis: Dirk Gratzel nennt nicht weniger als 16 000 Dinge sein eigen!
Wobei... so überraschend auch wieder nicht, wenn ich mir überlege, was allein an Gläsern und Tassen ungenutzt in unseren Schränken steht...
Nach der gründlichen Inventur wird es dann so richtig persönlich: Gratzels Lebensgewohnheiten werden detailliert erfasst.
Ab sofort also beim Frühstück jede Scheibe Wurst und Käse wiegen und beim Duschen und Händewaschen penibel die Zeit stoppen! Dazu hat Gratzel jede Menge excel Tabellen auszufüllen: Wie oft und wohin ist er geflogen? Wie viele Kilometer hat er durchschnittlich im SUV zurückgelegt?
Freimütig gibt Gratzel zu, die TU Berlin wisse inzwischen mindestens genauso (wenn nicht sogar genauer) über sein Leben Bescheid wie seine Frau…
Und das ist erst der Anfang. Im nächsten Schritt werden die erhobenen Daten von den ebenso gewissenhaften wie unbarmherzigen Wissenschaftlern der TU ausgewertet und sein Lebensstil auf Umweltverträglichkeit überprüft.
Oder sagen wir besser Umweltunverträglichkeit: Allein Gratzels CO2 Emissionen betragen seit dem Tag seiner Geburt im Durchschnitt 23,4 Tonnen pro Jahr! (Zum Vergleich: Um unsere Klimaziele zu erreichen, dürfte jeder Mensch jährlich maximal zwei Tonnen CO2 emittieren...)
Würde die Natur Noten vergeben, dürfte Gratzel wohl mit einer glatten sechs - ungenügend - rechnen.
Also heißt es Nachsitzen für den Öko-Novizen.
Neben energieeffizienten Umbaumaßnahmen im und am Haus ist es vor allem der Umstieg von SUV auf Hybrid, Fahrrad und Deutsche Bahn, der für den vielreisenden Gratzel gravierende Einschnitte bedeutet.
Verzögerungen im Betriebsablauf, betrunkene Lokführer und Böschungsbrände - staunend spricht Dirk Gratzel in seinem Buch von der ihm bis dahin weitestgehend unbekannten Welt der öffentlichen Verkehrsmittel.
Auch im Kleinen gilt es umzudenken: Geduscht wir nur noch 45 Sekunden, auf Kaffee möglichst ganz verzichtet.
Was mir besonders gut gefällt: Dirk Gratzel ist kein eingefleischter `Öko´, dem es leicht fällt, sich umzustellen, weil er ohnehin am liebsten Gemüse und Tofu isst. Nein, Gratzel ist fleischessender, weintrinkender Genießer.
Für ihn ist das Ändern gewohnter Verhaltensmuster eine pragmatische, aufgrund des Klimawandels notwendig gewordene Entscheidung.
Dass er auf seinem Weg immer wieder an seinem Vorhaben zweifelt, macht ihn nur umso sympathischer. Auch er stellt sich die immer gleichen Fragen: Ist das Ziel eines klimaneutralen Lebens überhaupt erreichbar? Stehen der ganze Aufwand, all die Investitionen überhaupt noch in Relation zum Ergebnis?
Eine Frage, die man dagegen vergeblich in seinem Buch sucht: Was bringts, wenn ich alleine mich bessere, wenn nicht alle anderen mitziehen?
Da ist Dirk Gratzel ganz bei sich. Will sein persönlich gestecktes Ziel erreichen, ohne dabei den ökologisch moralischen Zeigefinger zu erheben - und ohne sich selbst zum Nachhaltigkeitsguru zu erklären. Ganz nüchtern stellt er fest, dass auch er in der Umsetzung seiner Maßnahmen zum Umweltschutz an Grenzen kommt, wenn es beispielsweise darum geht, Kompromisse mit der Ehefrau im Bezug auf Autofahrten oder die Raumtemperatur zu finden.
Über das öffentliche Interesse, das seinem Projekt zuteil wird, zeigt er sich eher erstaunt und entschließt sich nur widerstrebend und erst auf Drängen von Naturschutzorganisationen, mit seinem privaten Konzept an die Öffentlichkeit zu gehen.
Glück für uns. Nicht nur liefert sein erfrischend offenes Buch unterhaltsame Anekdoten ebenso wie fundierte Sachtexte - mit seiner neuen Plattform greenzero.me ermöglicht er inzwischen auch einem breiten Publikum, die eigene Öko-Bilanz zu ermitteln.
Vielleicht Gratzels größter Verdienst: Gemeinsam mit den involvierten Wissenschaftlern stellt er das sensible und oft emotional diskutierte Thema ökologischer Lebensweise auf eine wissenschaftliche Basis und liefert damit wertvolle Orientierungspunkte für ein umweltverträglicheres Leben.
Und das heißt eben nicht, willkürlich Verzicht zu üben, sondern klare Kriterien für Alltagsentscheidungen zu haben: Fleisch essen und dabei klimaneutral bleiben? Kein Problem, wenn man auf Wild umsteigt. Auf das Frühstücksei verzichten? Muss nicht sein, wenn der Nachbar Hühner im Garten hält.
Klingt doch alles ganz gut. Aber war da nicht noch was?
Es ging ja nicht nur um eine bewusstere Lebensweise, sondernd um den Ausgleich der bereits getätigten und voraussichtlich noch zu verursachenden Umweltschäden!
In diesem Punkt leistet Gratzel wahre Pionierarbeit und erarbeitet in Zusammenarbeit mit der TU Berlin und verschiedenen Naturschutzorganisationen ein Konzept zur Wiedergutmachung.
Wie das aussieht? Das lest am besten in Projekt Green Zero nach - ganz ohne schlechtes Gewissen, da der gesamte Herstellungsprozess des Buches inklusive Druck klimapositiv ist. Ich selbst habe übrigens eine Ausgabe, die erst zweimal gelesen wurde. Wer sich zuerst meldet bekommt diese gerne ausgeliehen. (Sorry Herr Gratzel: Schlecht für die Auflage - besser für die Umwelt...)
Und was bedeutet das jetzt für meinen Einkauf?
Die vielen kleinen Alltagsentscheidungen kann mir natürlich auch Dirk Gratzel nicht in Gänze abnehmen.
Was ich aus seinem Buch aber mitnehme, ist ein grundlegendes Verständnis für die Wechselwirkung von menschlichem Leben und unserer Umwelt, sowie der ein oder andere Aha-Effekt. So entscheide ich mich letztlich für die Alutube, kaufe Nudeln statt Reis - und Bier statt Wein. Endlich ein valides Argument für erhöhten Biergenuss gegenüber meiner Verlobten!
Dirk Gratzel: Projekt Green Zero. Können wir klimaneutral Leben?
Mein konsequenter Weg zu einer ausgeglichenen Ökobilanz
Ludwig Verlag, München
Broschiert, 256 Seiten
ISBN: 978 3 453 281 295
€ 18,00 (eBook € 15,99)
[...] In seinem Buch erzählt Dirk Gratzel die Geschichte seines außergewöhnlichen Umweltprojekts, von einer Idee mit großer Wirkung, von kleinen Rückschlägen und großen Fortschritten und von der Hoffnung, dass ein Leben ohne Klimaschulden möglich ist.
(Klappentext)
Weiterführende Links:
"Ich habe noch nie etwas Sinnvolleres getan im Leben."
[Dirk Gratzel auf www.projekt-greenzero.de, Stand 24.03.2021]
"Im Rahmen eines greenzero.me™-Projektes erheben wir über einen definierten Zeitraum den täglichen Konsum der Teilnehmer, bewerten die Besitzstände und beleuchten rückblickend Einflussfaktoren der Vergangenheit auf die Umwelt."
[www.greenzero.me, Stand 24.03.2021]
* Dieser Blogbeitrag wurde mit freundlicher Unterstützung von www.sprachgefühl.com erstellt.